Liebe Gemeinde,
kennen Sie das auch, dass Sie denken: zu der Zeit hätte ich gerne gelebt? Viele der heutigen Jugendlichen hätten gerne in den 80er Jahren gelebt, wegen der Mode, der Musik und des Lebensgefühls. Oder Sie haben schon mal gedacht: die wilden Zwanziger in Berlin – da wäre ich gerne dabei gewesen.
Als ich die Festschrift zum Bau Ihrer Rieger-Orgel vor 25 Jahren las, dachte ich: da wäre ich gern dabei gewesen. Sehr gerne hätte ich das Männerballett gesehen, hätte vom Orgelkuchen gekostet und Peter Pöhlmann und die St. Pauli-Kicker gegen das Team der Marktgemeinde angefeuert. Es muss eine wunderbare Aufbruchstimmung in der Pauluskirche geherrscht haben. Die neue Orgel mobilisierte ungeahnte Kräfte. Über 90.000 DM wurden durch vielfältige Aktionen gesammelt – was für eine großartige Leistung.
Vielleicht werden wir allerdings bald wieder ein Männerballett auf der Wiese sehen und vielleicht werden bald wieder viele Kuchen gebacken. Denn die Pauluskirche benötigt Geld, viel Geld. Um das Dach der Kirche zu decken und das Gemeindehaus zu dämmen. Um den Kindergarten zu erhalten und das Pfarrhaus. Wir benötigen so viel Geld, dass vermutlich alle gut gemeinten Aktionen, ja, selbst ein Männerballett, nicht ausreichen werden. Diese Gemeinde wird sich nach finanzkräftigen Partnern umsehen müssen, wenn sie die Kirche und das Gemeindehaus erhalten will. Mit diesen Sorgen steht die Pauluskirche nicht allein da. In Bayern, in Deutschland, ja in ganz Europa stehen Gemeinden vor der Frage, wie sie die Finanzmittel aufbringen sollen, um ihre Kirchen zu erhalten.
Der Erhalt von Kirchengebäude ist sehr kräftezehrend. Manchmal frage ich mich, warum ich eigentlich Theologie studiert habe. Architektur, Bauingenieurwesen, Immobilienverwaltung wären für meine derzeitigen Aufgaben fast hilfreicher gewesen. Ich bedauere das sehr. Denn die Beschäftigung mit Gebäuden ist letztlich eine Beschäftigung mit etwas Totem, mit Steinen, mit Beton. Jeder Cent, die wir in Gebäude stecken, fehlt uns für die Menschen, für Lebendiges.
Bei einer Orgel ist das anders! Eine Orgel ist quasi ein Lebewesen. Denn sie atmet. Sie singt so, wie wir Menschen singen, mit Luftstrom, der in Bewegung gesetzt wird. Deshalb eignet sie sich besonders gut zur Begleitung von menschlichen Stimmen. Als vor 25 Jahren die Rieger-Orgel in die Pauluskirche einzog, erhielt die Gemeinde also eine neue Mitbewohnerin. Eine Mitbewohnerin, die inzwischen zur jungen Erwachsenen gereift ist. Sie ist eine gute Mitbewohnerin, treu und zuverlässig.
Sie begleitet nun seit 25 Jahren Menschen auf ihrem Lebensweg. Sie spielt bei Taufen und manchmal auch bei Beerdigungen. Bei Konfirmationen und Trauungen. An Weihnachten und Ostern und auch am 10. Sonntag nach Trinitatis. Die Orgel kann überschäumend laut und fröhlich sein oder zurückhaltend und leise. Und sie kann trösten.
Im Predigttext haben wir ja von der Wirkung der Musik gehört, wenn die bösen Geister über König Saul kamen. Wenn Saul vom bösen Geist ergriffen wurde, vertrieb ihn David mit seinem Saitenspiel.
Ähnliches schreibt Martin Luther über die Wirkung der Orgel. An den von Schwermut geplagten Bruder von Hieronymus Weller schreibt Luther im Oktober 1534: ״Darum, wenn ihr traurig seid, und es will überhand nehmen, so sprecht: Auf, ich muß unserm Herrn Christo ein Lied schlagen auf dem Regal (einer kleinen Orgel). Denn die Schrift lehret mich, er höre gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel. Und greift frisch in die Tasten und singet drein, bis die Gedanken vergehen, wie David und Elisa taten.“
Das Interessante an Luthers Aussage ist ja, dass Luther nicht sagt, dass Musik allgemein die Schwermut vertreibt. So nach dem Motto, wenn ich schlechter Stimmung bin, höre ich Musik, die ich liebe, und sie baut mich auf. Luther dagegen rät dem Schwermütige, Christus ein Lied zu spielen, da Christus gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel höre. Nicht die Musik an sich macht also fröhlich. Sondern die Musik, die wir für Christus spielen, vertreibt die Traurigkeit. Wir musizieren also, um Gott zu erfreuen und werden dabei selbst aufgebaut!
Im Lied ‚Die güldne Sonne‘ beschreibt Paul Gerhard es so wunderbar:
Lasset uns singen, dem Schöpfer bringen
Güter und Gaben; was wir nur haben,
alles sei Gotte zum Opfer gesetzt!
Die besten Güter sind unsre Gemüter;
dankbare Lieder sind Weihrauch und Widder,
an welchen er sich am meisten ergötzt.
Die Lieder der Gemeinde, die Musik der Orgel sind die Opfer, an denen Gott sich erfreut.
Unsere Lieder steigen also zu Gott auf wie der Rauch von Opfern oder der Duft vom Weihrauch. Eine Bewegung von unten nach oben.
Zugleich aber ist der Gottesdienst nach lutherischem Verständnis eine Bewegung von Gott hinunter zu uns. Gottesdienst nach lutherischem Verständnis ist kein Dienst des Menschen für Gott, sondern ein Dienst Gottes am Menschen. Er ist ein Geschenk Gottes an uns. Gottesdienst bedeutet, Gott wendet sich uns Menschen zu. In seinem Wort begegnet Gott den Menschen, im Sakrament gibt er sich der Gemeinde der Glaubenden zu erkennen.
So eröffnet der Gottesdienst also einen Raum, ja auch einen Klangraum, in dem Gott und Mensch sich begegnen, sich auf einander zu bewegen. Oder wie Martin Luther es ausdrückte: Im Gottesdienst geschieht es: „dass unser lieber Herr Jesus selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir umgekehrt mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“
Diese Verbindung zwischen oben und unten herzustellen, darin ist die Orgel besonders gut. Der bekannte Soziologe Hartmut Rosa ist begeisterter Organist und hat über die Orgel ein Interview in der Wochenzeitung Die Zeit gegeben. Dabei wurde gefragt, ob man an Gott glauben muss, um ein guter Organist zu sein. Er antwortete: nicht unbedingt, aber: „Sobald die Orgel erklingt, wird ein religiöser Sinn geweckt.“ Religiös in dem Sinn, dass eine vertikale Resonanz entsteht. Rosa beschreibt es so: „Die Orgel erfasst den ganzen Leib, füllt jeden Raum. Sie erweckt eine Verbindung nach oben und unten. Darin ist sie einzigartig.“
Und das gilt auch für die Rieger-Orgel hier in der Pauluskirche. Sie verbindet uns mit Gott. Und somit hat Organistin Ulrike Steinmetz Recht, die die Orgel von uns allen ja am besten kennt. Sie schrieb zu diesem Jubiläum: „Der materielle Wert eines solchen Instrumentes mag zwar hoch sein, die Wirkung freilich, die es ausüben kann, ist unermesslich.“