Liebe Gemeinde,
im zweiten Teil des Propheten Jesaja finden sich vier Textstücke, die sich inhaltlich und stilistisch von den anderen Texten abheben. In hymnischer Form stellen sie einen »Knecht« vor, der als Gerechter von den Menschen verworfen wird, aber gerade in seinem Scheitern zum Mittler des göttlichen Heils wird. Unser Predigttext (Jes 50,4-9) gehört zu diesen vier sogenannten Gottesknechtsliedern. Eine Auslegung Bonhoeffers zum Predigttext haben wir zur Begrüßung gehört.
Dietrich Bonhoeffer hat außerdem in seiner letzten bekannten Andacht über einen Vers aus dem vierten Gottesknechtslieds predigte.
Anfang April 1945 war Bonhoeffer in Schönberg im bayerischen Wald mit anderen Sonderhäftlingen untergebracht. Am ersten Sonntag nach Ostern, es war der 8. April, wurde Bonhoeffer von den Mitgefangenen, auch den katholischen und einem Kommunisten, um eine Morgenandacht gebeten. Er las die Texte des Sonntags, betete und legte die Tageslosung aus, die eben aus dem vierten Gottesknechtslied stammt: „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,5).
Kaum hatte er die Andacht beendet (so erinnert sich der Mithäftling Captain Payne Best), als die Tür aufging und zwei finster aussehende Männer in Zivil hereinkamen und befahlen: ‚Gefangener Bonhoeffer, fertigmachen und mitkommen‘. ‚Das Wort ‚mitkommen‘ – die Gefangenen hatten alle gelernt, was es bedeutete: den Galgen. Wir sagten ihm Auf Wiedersehen. (Bonhoeffer) nahm mich beiseite und sagte: „Das ist das Ende – für mich ist der Beginn des Lebens.“.
Bonhoeffer wurde nach Flossenbürg gebracht und im Morgengrauen des nächsten Tages, am 9. April vor 80 Jahren gehenkt. Der SS-Lagerarzt von Flossenbürg erinnerte sich: „„Durch die halbgeöffnete Tür eines Zimmers im Barackenbau sah ich vor der Ablegung der Häftlingskleidung Pastor Bonhoeffer in innigem Gebet mit seinem Herrgott knieen. Die hingebungsvolle und erhörungsgewisse Art des Gebetes dieses außerordentlich sympathischen Mannes hat mich auf das Tiefste erschüttert. Auch an der Richtstätte selbst verrichtete er noch ein kurzes Gebet und bestieg dann mutig und gefasst die Treppe zum Galgen. Der Tod erfolgte nach wenigen Sekunden. Ich habe in meiner fast 50jährigen ärztlichen Tätigkeit kaum je einen Mann so gottergeben sterben sehen.“ Wir wissen nicht, ob diese spätere Aussage des SS-Arztes eine nachträgliche Romantisierung zum Zwecke der eigenen Entlastung ist oder ob sie das trifft, was damals tatsächlich geschah. Aber die Sätze des Arztes berühren uns, weil sie dem entsprechen, was wir Bonhoeffer wünschen würden: dass er ohne Zweifel, ohne Ängste in den Tod ging. Dass er den bittren Kelch dankbar ohne Zittern aus Gottes Hand genommen hat.
Aber war es so?
Liebe Gemeinde,
heute am Palmsonntag gedenken wir auch des Leidens Jesu Christi. Heute haben wir in der Lesung von seinem Einzug in Jerusalem gehört, bei dem die Menschen ihm zujubelten. Aber wir wissen: aus dem Jubel ‚Hosianna, gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn‘ wird innerhalb weniger Tage die Hetze ‚Kreuzige ihn‘. Fünf Tage hat Jesus noch, in den er seine Jünger auf seinen Tod vorbereitet. In denen er sich als der Gottesknecht zu erkennen gibt, in denen er ihnen versucht zu erklären, dass er es ist, von dem es bei Jesaja heißt: „durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Fünf Tage, in denen immer wieder die Frage im Raum steht: warum rettete sich Jesus nicht? Warum geht er in den Tod?
Auch im Leben Bonhoeffers gab es immer wieder Momente, in den er hätte davonlaufen und sich retten können. Was er aber nicht tat.
Einer dieser Moment war der Sommer 1939. Bonhoeffer hatte sich um eine Einladung in die USA bemüht, weil er eine Einberufung in die Armee befürchtete, der Krieg lag in der Luft. Bonhoeffer konnte sich einerseits nicht vorstellen, für Nazideutschland zur Waffe zu greifen. Andererseits fürchtete er einen Ansehensverlust der Bekennenden Kirche, wenn er sich der Einberufung widersetzte. Am 2. Juni 1939 brach er mit seinem Bruder Karl-Friedrich nach New York auf. Doch schon auf der Überfahrt kamen ihm Zweifel, ob seine Entscheidung richtig war. In New York übernahm er eine Gastprofessur, deren Zimmer das Prophetenzimmer genannt wurde. Aber was für ein Prophet war er? Wie so oft fand er Zuflucht in der Bibel, auch in den Losungen. Und las aus dem zweiten Gottesknechtslied: „Du sollst mein Knecht sein. Ich erwähle dich und verwerfe dich nicht.“ (Jes 41,9) Aber wozu war er erwählt? Obwohl er in Amerika ist, ist ein Herz in Deutschland. Er schreibt am 16. Juni: „Beunruhigende Nachrichten… Wenn es jetzt unruhig wird, fahre ich bestimmt nach Deutschland. Ich kann nicht allein draußen sein. Das ist mir ganz klar. Ich lebe ja doch drüben.“ Wenige Tages später schlägt er ein gut gemeintes Angebot seiner amerikanischen Freunde aus und entscheidet sich damit gegen einen Verbleib in den USA. Bonhoeffer ist bewusst, dass diese Entscheidung zu seinem Tod führen kann. Er notiert: „Für Sabine (seine Zwillingsschwester) tut mir mein Entschluss am meisten leid." Aber war dies die richtige Entscheidung? Kaum hat er sie gefällt, kommen Zweifel. War es das Heimweh, dass ihn zurück nach Deutschland zog? Die Freude an der Arbeit in der Bekennenden Kirche? Und so fragt er sich selbst „ist es nicht unverantwortlich im Blick auf so viele andere Menschen, einfach nein zu sagen zu seiner eigenen Zukunft und der vieler anderer?“
Hier an einer der großen Wegkreuzungen seines Lebens ist Bonhoeffer nicht der gefestigte Held, der ohne Zittern und Zagen dem Tod entgegen geht. Sondern ein Mensch, der sich streng hinterfragt. Der sich fragt: sind meine Motive lauter, gottergeben, oder doch eher ganz menschliche Verlangen und Bedürfnisse. In dieser schwierigen Situation schreibt Bonhoeffer: „Ich kenne mich nicht mehr aus. Aber Er (Gott) kennt sich aus. Und am Ende wird alles Handeln und Tun klar und rein sein.“
Liebe Gemeinde,
auch wenn wir auf unser eigenes Leben schauen, wünschen wir uns Klarheit und einen tieferen Sinn. Wir möchten nicht, dass alles nur Zufall war und ist, sondern in allem Gottes Führung entdecken. Deshalb suchen wir oft nach Zeichen oder wir hören im Gebet auf Weisungen. Und sehr oft meinen wir dann auch eine Antwort zu bekommen. Genau der Partner musste es sein, weil… die Arbeitsstelle, weil… diese Wohnung…. dieses Engagement… alles musste so sein, weil Gott es will, und das erkennen wir im Zeichen xy.
Bonhoeffer machte eine andere Erfahrung. Das wohlige Gefühl, dass alles genauso ist, weil Gott es so will, stellte sich gerade nicht ein. Schonungslos ehrlich beschreibt er seine innere Zerrissenheit und das Ausbleiben der klaren Weisung durch Gott.
Aus Gefängnis schreibt er an seinen Freund Eberhard Bethge: „Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen - „etsi deus non daretur“ [als ob es Gott nicht gäbe]. Und eben dies erkennen wir – vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden.Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt."
Liebe Gemeinde,
„Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt.“ - diese Worte führen in das Zentrum der vor uns liegenden Karwoche. Zum Schrei Jesu am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“
Von Dietrich Bonhoeffer ist dieser Schrei nicht übermittelt. Gottergeben soll er gestorben sein, sagte der SS-Arzt. Gottergeben? Als hätte Gott seinen Tod gewollt. Als wäre es Gottes Wille gewesen und nicht das Urteil der Nazis.
Nein, Bonhoeffers Tod war weder gottgewollt noch gottergeben. Und Bonhoeffer war nicht der ruhige, gelassene Held, als den wir ihn gerne sehen würden. Als hätte er übermenschliche Kräfte gehabt, übermenschlichen Glauben, übermenschliche Gewissheit. Aber nein. Dietrich Bonhoeffer wollte nicht sterben, er wollte leben, lehren, lieben. Und ihn plagten existenzielle Fragen, immer und immer wieder fragt er sich: wer bin ich? Habe ich richtig entschieden? Was wird aus meinen Lieben? Was wird aus mir?
Und dann finden wir in seinen Aufzeichnungen einen Wechsel, weg von den Fragen, weg von dem Wunsch nach Antworten, weg von dem Drehen um sich selbst – hin zu Gott. Bonhoeffers Gedicht ‚Wer bin ich‘ endet so:
„Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
Ähnlich betet Jesus in Gethsemane an Gründonnerstag: „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst.“
Und vielleicht es genau das, was wir spüren, wenn wir sein berühmtestes Gedicht singen: von guten Mächten. Dass die Gewissheit ein Wunsch ist, eine Bitte. Dass in der Gewissheit der Zweifel mitschwingt. In seinem Gedicht spüren wir, dass jedes Wort abgerungen ist, dass hinter den Worten, die uns heil machen, Wunden stehen Und dass Bonhoeffer trotzdem, am Ende, alles was ist, alle Fragen, alle Ängste und sich selbst Gott überantwortet. „Dein bin ich, o Gott.“ Ich hoffe, dass er so gestorben ist. Und dass es uns auch immer wieder gelingen möge, unser Leben Gott zu übergeben. Dein sind wir, o Gott. Amen.